Ein umgestürzter, großer Baum und ein Wisent[1]; das sind Wahrzeichen des Urwaldes und Nationalparks von Białowieża. Alle Bäume stürzen irgendwann um, wenn man sie lang genug wachsen lässt. Im Urwald wachsen sie bis sie fallen und werden dann nicht beseitigt. Sie schützen in der durch ihren Sturz entstandenen Lichtung nachwachsende Bäume vor Wildverbiss. Sie zerfallen langsam und bieten dabei vielen Arten einen besonders wertvollen Lebensraum. Die Artenvielfalt in einem zerfallenden Baum ist etwa dreimal so hoch wie in einem lebenden Baum. Und weil im Urwald nicht nur der Kreislauf des Werdens und Vergehens von Bäumen, sondern alle Kreisläufe nicht gestört werden, ist dort die gesamte Artenvielfalt sehr viel größer als in einem Wirtschaftswald.
Der Urwald von Białowieża ist mit einer Fläche von 1500 km2 der größte zusammenhängende Urwald Europas. Er liegt, diese überschreitend, an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Er verdankt seine Entstehung einer im Jahre 1409 von König Jagiello von Polen und Litauen veranlassten Großjagd. Für einen entscheidenden Krieg gegen den deutschen Orden wurden Fleischvorräte benötigt. Im Wald von Białowieża wurden daher viele Wisente erlegt und ihr Fleisch konserviert[2]. Die großen Wisentherden konnten sich rasch erholen. Jagiello erklärte den Wald nach der erfolgreichen Jagd zum königlichen Jagdgebiet und stellte ihn unter strengen Schutz. Der Wald wurde zum bevorzugten Jagdgebiet fast aller folgenden polnischen Herrscher. Auch August der Starke blieb dieser Tradition treu, nachdem er König von Polen geworden war. Nach der Teilung Polens zwischen den angrenzenden Großmächten (Russland, Österreich-Ungarn und Preußen) fiel der Urwald an Russland. Die russischen Zaren ließen in Białowieża eine Sommerresidenz errichten, jagten ebenfalls und hielten den Schutz des Waldes aufrecht. Hermann Göring jagte dort vor und während der Besatzung Polens durch Nazi-Deutschland[3]. Der Begeisterung der jeweils Herrschenden für die (nachhaltige) Jagd in dem ursprünglichen Wald ist es zu verdanken, dass der Urwald von Bialiwieża sich seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit natürlich entwickeln konnte.
Die Zeit der deutschen Besetzung während des ersten Weltkrieges stellte die erste große Zäsur dar. Es wurde rücksichtslos, in großem Stil, im Urwald abgeholzt. Die einmalige Tierwelt – insbesondere die Wisente - wurde völlig unzureichend geschützt. Das Ergebnis war, dass nach dem Krieg 1/6 der Bäume gefällt war und wegen Abschüssen durch die Offiziere der deutschen Besatzung und wegen Wilderei der Bevölkerung die Wisente in Białowieża ausgerottet waren[4]. Damit war die zuvor größte wildlebende Herde in Europa verschwunden. Die Bejagung des Wisents in anderen Teilen Europas ging weiter und Mitte der zwanziger Jahre war er als Wildtier in ganz Europa ausgerottet. Nur in Zoos hatten einige Tiere überlebt. Die meisten davon stammten aus Bialowieza.
In einer Gegenbewegung wurden in der neu erstandenen Republik Polen Naturschützer*innen aktiv. Sie erreichten, dass der Wald von Białowieża zum Nationalpark wurde. Auf Initiative des polnischen Naturforschers Jan Sztolcman wurde 1923 in Berlin die internationale Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents gegründet. 1929 gelangten die ersten Tiere aus deutschen und schwedischen zoologischen Gärten in die neue Zuchtstation in Białowieża. Die kleine Herde konnte durch den zweiten Weltkrieg Krieg gebracht werden und im Jahr 1952 begann in Białowieża die Auswilderung von Wisenten. Heute leben dort wieder mehr als 800 Tiere[5]. Es war eine europäische Erfolgsgeschichte des Artenschutzes.
Ein Aufenthalt im Urwald ist ein erhabenes, erhebendes Erlebnis des Wunders der Natur. Man wandelt in einer anderen Welt mit einem besonderen Licht, besonderem Grün, vielen Vögeln, vielen Insekten (auch stechenden) und majestätischen, alten Bäumen. Ein größere Zahl von ihnen ist mehrere hundert Jahre alt, nicht nur einzelne wie sie es in normalen, land- und forstwirtschaftlich geprägten Landstrichen gelegentlich als Naturdenkmal gibt. Der Urwald hat eine reiche Flora und Fauna mit etlichen Arten, die es nur noch in Białowieża gibt. Für einen normalen Touristen sind viele dieser „Seltenheiten“ allerdings nicht erlebbar, weil große Teile des Nationalparks für die Allgemeinheit nicht zugänglich sind. Doch sind auch die zugänglichen, weniger sensiblen Bereiche des Waldes ein ergreifender Eindruck für Menschen, die sonst nur Wirtschaftswälder kennen.
Ist Bialowieża also ein kleines Paradies für Naturliebhaber*innen, ein Ort der Harmonie zwischen Mensch und Natur? In gewisser Weise ja. Aber es war in der jüngsten Vergangenheit auch ein Ort heftiger Konflikte zwischen Naturschutz und konventioneller Wirtschaft, zwischen Regierung und Naturschützern, zwischen verschiedenen Weltanschauungen. Näheres dazu hier: Konflikte